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Als am Weihnachtstag im Moskauer Gerichtssaal das Urteil verlesen wurde, bat Sergej Udalzow nicht um Milde. Stattdessen reagierte der langjährige russische Oppositionelle mit offener Wut. Die gegen ihn verhängte Haftstrafe von sechs Jahren nannte er eine „schändliche Entscheidung“. Die Verantwortlichen, so warnte er, würden eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden. Dann folgten Worte, die sich rasch über die verbliebenen unabhängigen Medien Russlands verbreiteten: „Seid verdammt, ihr Hunde“, wie zuerst das unabhängige Portal Meduza berichtete.

Udalzow, seit Jahren ein Kritiker von Präsident Wladimir Putin und eine prägende Figur der russischen Protestbewegung der frühen 2010er-Jahre, wurde wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ verurteilt – ein Straftatbestand, der zunehmend gegen politische Gegner eingesetzt wird. Die Staatsanwaltschaft hatte sieben Jahre Straflager gefordert, das Gericht blieb mit sechs Jahren darunter, wie Associated Press und Reuters berichten.

Nach der Urteilsverkündung kündigte Udalzow an, nach Rechtskraft des Urteils einen unbefristeten Hungerstreik zu beginnen – notfalls „bis zum Tod“. Menschenrechtsorganisationen reagierten alarmiert. Die Associated Press weist darauf hin, dass Hungerstreiks im russischen Strafvollzug häufig mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden sind und medizinische Versorgung oft unzureichend bleibt.

Ein vertrauter Vorwurf, ein immer weiteres Netz

Im Kern des Verfahrens steht ein Artikel, in dem Udalzow die Strafverfolgung einer Gruppe marxistischer Aktivisten in der Stadt Ufa kritisierte. Diese waren zuvor als Mitglieder einer angeblichen „terroristischen Organisation“ verurteilt worden. Nach Darstellung der Ermittler, so berichtet Meduza, habe Udalzow durch seine Kritik Terrorismus legitimiert – ein Vorwurf, den seine Anwälte entschieden zurückweisen.

Juristische Beobachter sehen in dem Fall ein Beispiel dafür, wie weit der Extremismusbegriff in Russland inzwischen gedehnt wird. Laut Reuters werden Terrorismusparagrafen zunehmend auf Äußerungen, Kommentare und Veröffentlichungen angewandt. Gewalttätige Absichten müssen dabei nicht mehr nachgewiesen werden, um Kritik strafrechtlich zu verfolgen.

Ein widersprüchlicher Dissident

Udalzow passt nicht ohne Weiteres in das Bild der liberalen russischen Opposition. Der linke Nationalist und Vorsitzende der Bewegung Left Front hat den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine öffentlich unterstützt – eine Haltung, die ihn von Oppositionellen wie Alexej Nawalny unterscheidet. Geschützt hat ihn das nicht.

Wie The Moscow Times mehrfach berichtete, dulden die russischen Behörden politische Akteure, die unabhängig vom Kreml agieren, kaum – unabhängig von deren ideologischer Ausrichtung. Analysten zufolge bleibt vor allem Udalzows Fähigkeit, Unterstützer zu mobilisieren, ein zentrales Problem aus Sicht des Staates.

Der Schatten Nawalnys

Das Urteil gegen Udalzow ruft unweigerlich die Erinnerung an Alexej Nawalny wach, den bekanntesten Oppositionspolitiker Russlands, der im Februar 2024 in einer abgelegenen Strafkolonie in der Arktis starb. Die Umstände seines Todes sind bis heute umstritten. Internationale Medien und Menschenrechtsorganisationen haben den Fall ausführlich dokumentiert. Seitdem liegt ein schwerer Schatten über allen Verfahren gegen politische Gefangene.

Menschenrechtsbeobachter warnen, dass Udalzows angekündigter Hungerstreik ihn in eine besonders gefährliche Lage bringt. Sowohl der The Guardian als auch Radio Free Europe/Radio Liberty haben wiederholt Fälle dokumentiert, in denen hungerstreikende Gefangene in Russland medizinisch vernachlässigt wurden.

Recht als Instrument der Repression

Udalzows Verurteilung fällt in eine Phase, die Beobachter als nahezu vollständige Zerschlagung des politischen Raums in Russland beschreiben. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Jahr 2022 wurden unabhängige Medien geschlossen, zivilgesellschaftliche Organisationen verboten und Straftatbestände im Bereich „Extremismus“ und „ausländischer Einfluss“ ausgeweitet.

Nach Angaben von Radio Free Europe/Radio Liberty wurden Tausende Russinnen und Russen wegen regierungskritischer Äußerungen, Social-Media-Beiträge oder friedlicher Proteste verfolgt. In der Summe, so argumentieren Analysten, diene das Rechtssystem immer weniger der Aufklärung von Straftaten – und immer mehr der Erzeugung von Angst und Anpassung.

Warum dieser Fall über Russland hinaus Bedeutung hat

Für internationale Menschenrechtsorganisationen zeigt der Fall Udalzow exemplarisch, wie autoritäre Regime rechtliche Instrumente nutzen, um Dissens zu unterdrücken, ohne auf den äußeren Anschein rechtsstaatlicher Verfahren zu verzichten.

Ein europäischer Menschenrechtsforscher sagte Reuters, es handle sich um „Repression mit Aktenzeichen“ – Verfahren, die formal korrekt wirken, tatsächlich aber den rechtlichen Schutz aushöhlen.

Während Sergej Udalzow sich auf einen Hungerstreik vorbereitet, wird sein Fall zu einem weiteren Prüfstein dafür, ob internationale Institutionen bereit oder überhaupt in der Lage sind, auf den fortschreitenden Abbau grundlegender Rechte in Russland zu reagieren.

Foto: Mitya Aleshkovskiy – Own work, CC BY-SA 3.0